Radio Feature

Wenn dich die Leute fragen oder Die Erfindung Worpswedes

Ein Radio Feature von Margarete Jehn
für den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg

Musik: Wolfgang Jehn

Hamme


Landschaftsmusik

SPRECHER:
Der Nebel von der Nordsee her und der aus den Mooren rings um Worpswede haben sich zusammengetan und in rustikaler Manier die ganze Gegend übermalt.
Wie eine gestrandete Qualle liegt der Weyerberg in den nassen Wiesen, scheint in sich selbst zurückzurutschen nach und nach, mit einbrechender Schwimmglockenkuppel einzutauchen in seine unter dem vielen Grau und Weiß nur zu ahnende bläuliche Masse, aus der Dohlen stieben wie Geschmeiß.
Ein Flugzeug aus Bremen fliegt seine Reisehöhe an.
Der Percussionist Wind probiert mit trockenen Stauden und Samenkapseln am Uferrand des Moorflusses „Hamme“ polyrhythmische Durchgänge flussaufwärts mit langen Pausen.
Weit weg murrt die panzerstabile Autostraße in die Kreisstadt für alle die Ohren haben zu hören ihr Lied vom letzten Gefecht. Hoch und trocken die Bauernhäuser auf ihren Warften (Wohnhügeln).
In gehöriger Entfernung läuft die Hamme all dem Menschenelend davon, an Worpswede vorüber und weiter durchs Moor- und Wiesenland, bis sie ihrer morastigen Schwester „Wümme“ im Arm liegt und von diesem Augenblick an mit ihr unter dem Familiennamen „Lesum“ der schiffetragenden Weser entgegenläuft, um mit der zusammen in der Müllkippe Nordsee Nam’ und Art zu vergessen.
Die triumphalen Zeiten der Sturmfluten, Springfluten und Eisfluten scheinen für die beiden Moorschwestern vorbei zu sein.
Eingedeicht, begradigt, gestaut, gesperrt, gebändigt müssen sie stillhalten in ihrem Bett.


SPRECHERIN:
„Aver töv man“, sagt Aleke Klenken, „de neegste Springfloot kummt förwiß.“
„Ja, de ward al anröhrt“, sagt Ameke Poppen.




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Vogelschreie

Aleke. Und Ameke.
Zur Zeit der Hexenverfolgungen Mitte des 16. Jahrhunderts wurden diese beiden „Thoverschen“ nach harter und grässlicher Folter auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Seitdem ihr Schrei nach Gerechtigkeit auf Erden damals vor den tauben Ohren himmlischer und irdischer Mächte im Sankt-Jürgensland verhallte, reden und singen sich ihre Astralleiber bis zur endgültigen Klärung der Allmachtsfrage von Gut oder Böse durch das nasse Dreieck des Teufelsmoores, bis sie, gleich wie die Sache ausgeht, entweder heiliggesprochen oder zu Ehrenhexen ernannt werden.




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Wasser|Sturm

Ehrerbietig blaffen ihnen von den Warften herab die ringelschwänzigen Kettenhunde nach, still wird es auf den Rastplätzen der durchziehenden Wildgänse und Schwäne, wenn die beiden den an die Kandare genommenen Flüssen die großen und tröstlichen Erinnerungen an zügellose Zeiten vorzählen: De hoge Tide an Allerhilligen in’n November veerteihnhunnertunsoßendartig!

SPRECHER:
Das Hochwasser an Allerheiligen im November vierzehnhundertundsechsunddreißig!

SPRECHERIN:
Un denn de grote Isflot an’n söbenteihnsten Sneemond fofteihnhunnertolben!

SPRECHER:
Und dann die große Eisflut am siebzehnten Januar fünfzehnhundertelf!

(Ab hier den plattdeutschen Text ganz zurücknehmen und quasi als Schatten dem hochdeutschen Text unterlegen)

SPRECHERIN:
Un denn köm de Petrifloot an’n tweeuntwintigsten Feberwoor soßteihnhunnertuneenunfoftig!

SPRECHER:
Und dann kam die Petriflut am zweiundzwanzigsten Februar sechzehnhundertundeinundfünfzig!

SPRECHERIN:
Un denn dat Präsent to Wiehnachen an’n veeruntwintigsten Dezember söbenteihnhunnertunsoßteihn!

SPRECHER:
Und dann das Weihnachtsgeschenk am vierundzwanzigsten Dezember siebzehnhundertundsechzehn!

SPRECHERIN:
Und so weiter durch die Jahrhunderte bis ins zwanzigste hinein.

SPRECHER:
Die sogenannte Jahrhundertflut richtete im Jahr 1962 im Landkreis große Schäden an.
Über 10000 ha Land wurden überschwemmt, Deiche und Häuser wurden zerstört und Straßen überspült.
Menschenleben waren dank des Einsatzes aller Hilfsorganisationen nicht zu beklagen.




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Autos|Stimmen

SPRECHER:
Alle Gerüche und Geräusche aus dem Dorf steigen hoch zur Zionskirche auf dem Berg und drehen sich über dem Friedhof lange umeinander und ineinander – „.... da liegen’s beisammen, man kennt kaum den Namen.“

Nur Paula Becker kennt jeder, und täglich werden an ihrem Grabe ergriffenen Besuchergruppen ihre letzten Worte zugeraunt, in Deutsch, Englisch und ab 1991 auch in Französisch:

Wie schade!
What a pity!
Quel dommage!




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Nebel musikalisch|Krähen

SPRECHERIN:
Jo, töv man - sagen Aleke und Ameke.
Und die Bauern sind auch nicht so dumm, von ihren Warften herunterzukommen und auf ein Land zu bauen, das immer noch viel zu leicht ins Schwanken kommt.
Kleinere Überschwemmungen gibt es jedes Jahr.
Und dazu malt der Nebel ihnen immer mal wieder aus wie es sein könnte wenn das Wasser zurückkäme.
Wer vom Weyerberg herunter auf die mit Nebel gefüllte Senke blickt, braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich vor Augen zu führen, wie es früher um den Berg herum ausgesehen hat.
Vor allem wenn es anfängt zu dämmern ist die Illusion vollkommen – ein Binnensee zwischen Geesträndern, abendlich stilles Wasser, noch rot überhaucht weil eben eine große nackte Sonne untergegangen ist – das Wiesenland wartet auf die neue Jahrhundertflut.




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Schritte|Stimmen

SPRECHER:
Die Worpsweder, siedelnd an den Hängen und auf den Sandausläufern ihres vielgeliebten Höhenzuges, wünschen sich immer häufiger das Wasser zurück, wenigsten für eine gewisse Zeit. Einmal, nur einmal noch sollen die täglich hereinkriechenden Blechkarawanen aus dem Ort herausgehalten werden, und in den Straßen soll wieder das Summen der Bienen in den Linden zu hören sein, und Blumenduft soll regieren in den „Siedlungsgehegen“ der naturliebenden Städter und Reichen.
Beflissene Gemeindevertreter und Fremdenverkehrsfunktionäre aber haben dafür gesorgt, dass das Dorf „Grüne Küstenstraße“ wurde, und auch die „Märchenstraße“ war schon im Gespräch.
Aber vor allen mageren Märchen dieser Gegend ist Worpswede selbst das Märchen für die Lohn- und Gehaltsempfänger im Umland fast mehr als für die fremden Besucher aus höhergelegenen Landschaften, die verständnislos blicken, wenn ein Worpsweder die 52 Meter des Weyerberges erwähnt, der einem diesen freien Blick über das ganze Land beschert.
Höher gehts eben nicht, und an manchen abseits der Führungspiste gelegenen Orten, wo sich Baumgruppen mit einer sanft abfallenden Weide vereinen, auf der auch noch Kühe gehen, kommt sogar ein Hauch von Gebirge auf.
Und in dem ehemals „schwimmenden Land“ Waakhausen zu Füßen des Weyerberges, wo noch im 18. Jahrhundert Bodenstücke von einem halben Morgen, fünfzig Quadratmetern also, mitsamt ihrem Baumbestand den verzweifelten Besitzern einfach davonschwammen und mit Pfählen festgenagelt werden mussten, in diesem Waakhausen nennen heute noch die Bauern eine Bodenwelle von einem Meter Höhe achtungsvoll: De Barg – der Berg.

SPRECHERIN:
„Gewinn ist die Ethik der neunziger Jahre“ war vor kurzem in der heimischen Wümme-Zeitung zu lesen. Schon bevor Worpswede im Jahr 1989 sein hundertjähriges Bestehen als Künstlerdorf feierte, machten sich unter diesem Slogan lauter bemittelte Kuckucke von Gottweißwoher im fertigen Nest breit, um zu verkaufen, was um sieben Ecken herum mit Kunst und Kunsthandwerk verwandt ist, billigen und teuren Ramsch, Talmi, Mode, Esoterik, Kunstkarten, Postkarten und Kunstpostkarten, und gleich die Sechzigpfennigbriefmarke mit Heinrich Vogelers „Sommerabend“ dazu.
Das alles tröstet aber nicht über den Verlust der kleinen Lebensmittelläden hinweg, in denen man sich früher beim Einkaufen traf und nebenbei ein bisschen seine Einsamkeit wegschnacken konnte.
Kenner distanzieren sich vom „Kunstort“ Worpswede.
Andere, die es auch wissen müssen, bejubeln das „Weltdorf“ Worpswede.
Wer hier wohnt, kann sich nicht abgewöhnen zu sagen: „Ich geh mal eben ins Dorf.“




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Worpsweder Katzenmusik

SPRECHERIN:
Die observierenden rauchschwänzigen Katzen, mit Menschenanhang im Dorf oder wild auf dem Berg lebend, müssen sich bis zum Überdruss diese Maler- und Dichtergeschichten der Worpsweder Führungsquatschköpfe anhören, ehe sie endlich an ein Zünglein voll vom Picknick der ermatteten Besucher herankommen. „Lichtschaften“ und „Himmelschaften“, und alles nur auf der Miau-Ebene – keiner interessiert sich für das kätzische Kontrastprogramm mit den gepfefferten Wahrheiten: „Ich zaiiige dir die Lichtschaften und die Machenschaften, die Maiiisenschaften und die Karnickelschaften, ich zaiiige dir die Hundeschaften und ihre Botschaften (rüde über die Piktogramme kunstgassigeführter Stadthunde gezischt: Leve söte Deern, Bobbi hett di geern!), ich zaiiige dir alle tödlich geheimen Liebschaften und Laiiidenschaften, und gegen ein Stück Gelbes vom Aiii auch die zufälligen, öffentlichen und haiiiteren – dazu kostenlos die letzten unvergifteten Mauuuseschaften.“




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Lok|Dampfboot|Vibraphon

SPRECHER:
„Worpswede ist ein sinnliches Dorf“, sagte Friedrich Meckseper in glücklicheren Zeiten immer mal wieder – da ließ er auf einem Stück Gleis am Worpsweder Bahnhof seine Dampflock hin und her fahren, und das Volk stand und sah zu oder durfte mitfahren oder an einer Bude Bier und Sprudel trinken – da hatte er auf der Hamme noch seine „James Watt“ unter Dampf, sein selbstgebautes Boot. Passend kostümiert und stolz wie Oskar schipperte er mit seiner bildhübschen Frau stromauf und stromab, bis ihm das Brennmaterial ausging und die nachpaddelnde Anhängerschaft an den Ufern ausschwärmen und Holz suchen musste.
Da spielte er aus allerlei Anlässen noch Vibraphon auf Teufel komm raus und fühlte sich bei den Musikern unter Menschen. Und nun, erzählen sich die bekümmerten Worpsweder, soll er gesagt haben: „Worpswede ist ein unglückliches Dorf“, hat seine Sinnlichkeit eingepackt und ist damit nach Berlin gezogen und kommt erst im Frühling mit den Störchen zurück, und von denen bleiben jedes Jahr mehr weg.

SPRECHERIN:
In Berlin hat Friedrich Meckseper vor mehr als dreißig Jahren gelernt, was ihn am berühmtesten gemacht hat: die Kunst der Farbradierung. Drei-, vier- und nochmehrfarbig sind seine kostbar erscheinenden Zusammentragungen aus vegetationsfernen Erdendingen (wie zum Beispiel Versteinerungen), aus menschlichem Forschungsgerät durch alle Kulturen, aus wissenschaftlichen Instrumentarien und Zeichen und Schriften. Still füllen sie das Bild, sie erzählen keine Geschichten, nicht einmal Geschichte.
Aber sie gewähren Einblick.
Sie tragen eine Aura von hoher Konzentration und großer Ruhe um sich, die den Blick fängt und nicht wieder loslässt. Mecksepers Radierungen und auch seine Ölmalereien hängen in berühmten Museen der westlichen Welt - im Stedeliyk Museum in Amsterdam, im Victoria and Albert Museum in London, im Museum of Modern Art in New York, in der National Gallery of Victoria in Melbourne, und darüber hinaus auch in vielen Galerien und bei manchem Privatier mit dickem Portemonnaie.
„Schampus“, sagte Fritz in glücklicheren Zeiten.
Und nun wohnt er in Berlin.

SPRECHER:
Schon ein Dreivierteljahrhundert früher meinten die Worpsweder, den Rummel in ihrem Dorf nicht mehr aushalten zu können.
Damals wohnte schon „Tetsche“ in Worpswede, Tetjus Tügel, den sie später den „Schienenpaster“ nannten, weil er immer die neuen Triebwagen der Moorbahn taufte.
Er kam von Hamburg ins Moor und fand einfach nicht mehr heraus. Tetsche hatte etwas Spökenkiekerisches im Gesicht. Die Gegend faszinierte ihn, hier war einfach seine Landschaft. Er zeichnete das Moor in seiner ganzen Einsamkeit und vor dieser Kulisse die von den Anstrengungen des Überlebenskampfes gezeichneten Bewohner. „Kühl steigt der Nebel aus den Blättern seiner Totentanz-Sammlung“.
Trotzdem war Tetjus Tügel kein Kind von Traurigkeit.
Er schrieb auch, Gedichte, Romane und Erzählungen. Nebenbei heiratete er achtmal und ließ sich siebenmal scheiden.

Um ihn herum war immer allerhand los; den Rummel, den andere ins Dorf brachten, liebte er aber überhaupt nicht, und so tat er sich mit anderen missgestimmten Worpswedern zusammen und wurde „verantwortlicher Autodidakteur“ für die MODERSONGS.




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Die Modersongs" (Ausschnitt) gesungen von Thomas Schiestl

SPRECHERIN:
Als die Maler kamen, war es noch still im Dorf.
Fritz Mackensen, der hier den ersten Pinselstrich getan hat und auch sein ganzes Leben lang darauf bestand, als Gründer der Malerkolonie angesehen und gefeiert zu werden, lässt in einer Beschreibung seiner ersten Begegnung mit Worpswede in dieser armen, rückständigen Gegend die Farben aufleuchten, eine schöner als die andere:




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Wolkenmusik

SPRECHER:
„Gegen Abend dieses Tages hatte der Himmel im wahrsten Sinn des Wortes seine Wunder aufgezogen.
Ich ging auf den Berg. Da offenbarte sich Worpswede mir in seiner allergrößten Herrlichkeit. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal beobachtet haben, wenn bei sinkender Sonne verschieden hoch überereinander schwebende Wolkengebilde das Licht fangen.
Dann gibt es Farben von Dunkelviolett, Kupferrot, Gold und Silber, und da wo der Äther aufblitzt, erscheint er grünlich, aber in den Gebieten der silbernen Zirruswolken seidig blau. Unter einer solchen Herrlichkeit lagen die dunklen Äcker mit den Hafergarben, den weinroten Stoppeln des Buchweizens, den schwarzen Schollen der umgepflügten Erde und die formenreiche Weite mit den blitzenden Wasserläufen, auf denen schwarze Segel ihre Bahn zogen.
Auf den Weiden schwarzweiße Kühe, am Horizont das reiche Bild der Stadt“.

SPRECHERIN:
Ganz schön „malerisch“!
Es klingt beinah, als hätte Mackensen seine Augen durch ein Gemälde spazieren lassen – in einer holländischen Landschaft von Rembrandt, oder in einer der französischen Bauernmalereien spätromantischer Schule. Daran nämlich orientierten sich die „Ersten“ Worpswedes mit ihrem Naturempfinden und der Darstellung ihres Naturempfindens, obwohl der Höhepunkt der allgemeinen Beachtung dieser Art von Landschaftsmalerei schon mehr als dreißig Jahre zurücklag.
Sie malten „vor der Landschaft“, und es ging ihnen dabei nicht um die naturgetreue oder auch nur flüchtige Wiedergabe dessen was sie vor sich sahen, sondern sie wollten in ihren Malereien ihr eigenes umfassendes Naturgefühl ausdrücken.
Nur lag Worpswede nicht mehr „unverbraucht da wie am ersten Tag”, wie Rilke es in seinem Worpswede-Buch behauptet, sondern war mit seinen abgetorften Flächen, seinem Netz aus Kanälen und Gräben, seinen Baumreihen und bearbeiteten Feldern kultiviertes, wenn auch noch nicht von der Industrie berührtes Land.
Es ist schon zu verstehen, dass die Maler sich nicht sattsehen konnten an den über den flachen Boden verteilten optischen Reizen – auf den geometrischen Lichtbändern der Moorkanäle einzelne mühsam vorangebrachte Torfkähne, auf den Flüssen ganze Kahnflotillen mit geteerten Segeln auf dem Weg in die Stadt unter einem Himmel der heute wie damals gewaltige Inszenierungen liefert.
Fritz Mackensen – Otto Modersohn – Fritz Overbeck – Hans am Ende – Heinrich Vogeler – und wenig später kam noch Paula Becker hinzu: da standen sie und malten.

SPRECHER:
„Sie sehen alles in einem Atem“, schreibt Rilke, Menschen und Dinge.
Wie die eigentümlich farbige Luft dieser hohen Himmel keinen Unterschied macht und alles, was in ihr aufsteht und ruht, mit der selben Güte umgibt, so üben sie eine gewisse naive Gerechtigkeit, indem sie, ohne nachzudenken, Menschen und Dinge, in stillem Nebeneinander, als Erscheinungen derselben Atmosphäre und als Träger von Farben, die sie leuchten macht, empfinden.
Sie tun niemandem unrecht damit. Sie helfen diesen Leuten nicht, sie belehren sie nicht, sie bessern sie nicht damit. Sie tragen nichts in ihr Leben hinein, das nach wie vor ein Leben in Elend und Dunkel bleibt, aber sie holen aus der Tiefe dieses Lebens eine Wahrheit heraus, an der sie selbst wachsen, oder, um nicht zuviel zu sagen, eine Wahrscheinlichkeit, die man lieben kann.“

SPRECHERIN:
Das schreibt sich so hin, aber ganz so göttergleich wird die Haltung der Maler hoffentlich nicht lange geblieben sein.
Zwischen den gutbürgerlichen Künstlern und der in sich noch hierarchisch in Meier, Achtermeier und noch Ärmere aufgeteilten Landbevölkerung verlief wohl ein tiefer und breiter Graben der Fremdheit und des Nichtverstehens von beiden Seiten.
Aber sie lebten nun mal zusammen.
Über gemeinsames Wohnen, Nachbarschaft und Hilfe in Notsituationen, über Modellsitzen und den heute noch in Worpswede beliebten Tausch: Lebensmittel und praktische Dinge gegen Kunst, wird sich der Blick füreinander mit der Zeit etwas geklärt haben.
Von Mackensen ließen sich die Leute sogar in Trachten aus der Lüneburger Heide stecken, als sie für seinen später preisgekrönten „Schinken“ GOTTESDIENST IM MOOR Modell standen.
Seine Staffelei für die große Leinwand war die Kirchenmauer, er hatte keinen geschlossenen Raum, in dem er sie aufstellen konnte. Fast ein ganzes Jahr stand die Malerei an diesem Platz, und jeder Sturm holte den Fritz aus dem Bett und zwang ihn, zur Kirche zu rennen und seinem Bild gegen das Wetter beizustehen.

SPRECHER:
Paula Becker holte ihre bevorzugten Modelle aus dem Armenhaus, ging in Moorkaten, malte und zeichnete die armen Bauern, die Tagelöhnerfamilien, die Kranken, die Sonderlinge – wohl auch, weil die für das Modellsitzen nicht viel verlangten – sie hatte wenig Geld, ihr Vater unterstützte nur ungern ihre Mal-Ideen: „Ich glaube nicht, dass Du eine gottbegnadete Künstlerin ersten Ranges werden wirst, das hätte sich wohl schon früher bei dir gezeigt, aber Du hast vielleicht ein niedliches Talent zum Zeichnen, das Dir für die Zukunft nützlich sein kann...“

SPRECHERIN:
So schickte er sie ins Leben, der olle Baurat Becker.
Und das setzte sie als Essenz ihrer Bemühungen dagegen: Farbe, Grobheit, Flächen.
Sie war mitteilsam.
Am Anfang schrieb sie auch, notierte für ihre Freunde die folkloristischen Bemerkungen und Erzählungen ihrer Modelle.
Als sie ihrem eigenen Malstil auf die Spur gekommen war, hörte sie auf, schreibend die unendlichen Geschichten der Armen weiterzugeben, sie malte nur noch:
„BAUER MIT MÜTZE“, „DIE TORFSTECHER“, „BÄUERIN MIT KIND“, „STILLENDE MUTTER“, „ARMENHÄUSLERIN AM ENTENTEICH“, „JUNGE AM WASSER“, „ALTE BÄUERIN“, „BÄU-ERIN ZWISCHEN BIRKENSTÄMMEN“, „WORPSWEDER BAUERNKIND“, „KINDERWAGEN MIT ZIEGE UND KINDERN“, „ALTE ARMENHÄUSLERIN MIT GLASFLASCHE“ und mehr und mehr.

Hinzu kommen die vielen STILLEBEN.
Und immer wieder befragte sie die Landschaft ihres eigenen Gesichts und Körpers in SELBSTBILDNISSEN.
Mit einunddreißig Jahren, wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter, starb sie an einer Embolie, als unbekannte Malerin.

SPRECHER:
Und Heinrich Vogeler?
Der liebte die Birken. Er liebte die Welt und das Reisen, die Literatur und das Träumen und die Verwirklichung seiner Träume. Als er zweiundzwanzig war, kam er nach Worpswede und kaufte sich von seinem väterlichen Erbe den späteren „Barkenhoff“, den Birkenhof.
„König Heinrich“ nannten ihn die eingesessenen Worpsweder. Vierspännig fuhr er durch das Dorf, in einen Biedermeierfrack gekleidet. Sein Kutscher trug eine Livree mit silbernen Knöpfen.
Er entwarf und baute seinen „Barkenhoff“.
Die breite Treppe schwang sich in den Garten hinunter, den er ganz an das Haus binden wollte und aus dem er Teile immer wieder malte und stilisierte für Modelle eines schönen, idealisierten Lebens durch die Kunst und mit der Kunst.
Wer auf den von ihm angelegten Teich mit der kleinen Insel hinunterblickt, wird heute noch von den alten Träumen angesprungen wie von Flöhen.




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Vöglein im Baum

Wenn seine Worpsweder Malerkollegen versuchten, sich der Dramatik der Moorlandschaft zu stellen, betonte er mit blattumrankten Teichen und Tümpeln, mit Rosenhecken, Buchenlauben und Birkenhainen
die Paradiessehnsucht des Jugendstils.
Menschen stellte er nicht in ihrem an die Landschaft gebundenen und mit der Landschaft verbundenen Leben dar – für ihn wurden sie zu Märchenfiguren.
Und so trat auch Martha, seine spätere Ehefrau in Erscheinung, als Elfe, als Melusine, als Engel, als Heilige und als Prinzessin, als zarte Muttergestalt im Garten.
Martha, das einfache Mädchen, machte er zum Objekt seiner Träume.

SPRECHERIN:
Das entsprach ganz der Vorstellung des Jugendstils.
Die Frau soll ein von allen Zwängen der technisierten Welt befreites Naturwesen bleiben. Martha muss den Traum des jungen Malers leben.
Eine Weile erträgt sie das.
Sie liest zusammen mit Heinrich schöngeistige Literatur, fährt nach Dresden der gesellschaftlichen Umgangsformen wegen, macht sich bekannt mit Kunst, mit Musik und lernt, weil es einer Frau gut ansteht, das Weben.
Als Fritz Mackensen ihr die Technik der graphischen Vergrößerung von Fotografien beibringen will – sie hätte damit Geld verdienen können - lehnt Heinrich ab.
Sie soll sich nur mit typischen Frauenfertigkeiten beschäftigen.
Sticken soll sie. Blumen zeichnen.
1901 wird geheiratet.




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Hochzeitsglocken

SPRECHER:
Ihre eheliche Verbindung beehren sich ergebenst anzuzeigen (Tulpenreihe aus 10 Tulpen)

HEINRICH VOGLER
Worpswede
und Frau MARTHA
geborene Schröder (Gänseblümchen)
Worpswede. Im März 1901.

SPRECHERIN:
RAINER MARIA RILKE und CLARA RILKE-WESTHOFF haben ihr Heim gegründet in Westerwede bei Bremen, Bremen, im April 1901.

SPRECHER:
Es wird zur allgemeinen Kenntnis gebracht, dass der Kunstmaler Witwer Friedrich Wilhelm Heinrich OTTO MODERSOHN und die Kunstmalerin PAULA HERMINA BECKER die Ehe miteinander eingehen wollen. Worpswede, am 2. Mai 1901.

SPRECHERIN:
Drei Hochzeiten in einem Frühling.
Sie nannten sich DIE FAMILIE, die drei glücklichen Paare, lebten, liebten, arbeiteten, saßen mit illustren Gästen - den Gebrüdern Hauptmann, dem Dramaturgen Max Reinhardt – im „Weißen Saal“ des Barkenhoffs, dachten „Großgedanken“, musizierten.
Aber sie „schwoften“ auch wie die Besessenen auf dem Worpsweder Schützenfest und dachten sich allerlei Narreteien aus.
Paula Becker und Clara Westhoff hatten vor ihrer Ehe sogar die Kirchenglocken geläutet, einfach weil es sie „überkam“.
Die Ersten, die Alten – je ernsthafter und konzentrierter sie arbeiteten, um so übermütiger betrugen sie sich in ihrer freien Zeit.

Sie führten ein „Künstlerleben“. Das zog magisch die verklemmten Bürger an.

In Worpswede tauchten die ersten Touristen auf.
Das Gaststättengewerbe blühte, die ersten Baugrundstücke für die Villen stadtmüder Bremer wurden abgesteckt, die ersten Landstraßen geklinkert; und 1911 bekamen die Worpsweder ihren „Moorexpress“, der heute nur noch außerfahrplanmäßig und an Wochenenden von den Bahnübergängen herüberjault.
Damit war die Anbindung an die große Welt vollzogen.


Bei einigen Worpswedern kamen Bedenken auf:

„Nun ist durch Moor und Einsamkeit
der Schienenweg gespannt!
Nun saust und stampft der Lauf der Zeit
durch totenstilles Land!
Wo sonst ein Reich der Träume war,
fegt die Kultur daher
das Heideland, des Zaubers bar,
kennt keinen Frieden mehr.“




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Mondmusik

SPRECHER:
„Un ji, Aleke un Ameke“, sagt der Mond, „hebbt ji dat domoo
s denn nich komen sehn?'“

SPRECHERIN:
„Dor kunns jo woll nich owerwegkieken“, sagt Aleke.

SPRECHER:
„Un worum hebbt ji dor nix gegen mokt?“, sagt der Mond.

SPRECHERIN:
„Un worum hess du dor nix gegen mokt, sagt Ameke, „du kanns’ doch veel beter allens öwerblicken van dor boben!“

SPRECHER:
„Ik bün man bloots de Mond“, sagt derMond, „ik go op un ik go unner.“

SPRECHERIN:
„He is man bloots de Mond“, sagt Aleke.
„Deswegen danzt se em ok al op de Nees rum“, sagt Ameke.
„Hör to, Mond“, sagt Aleke, „wi hebbt doon wat wi kunnen, hett allns nix hulpen.“




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Gewitter|Ruderboot

SPRECHER: „... vormittags per Bahn nach Bremen. Regen und Wind beginnt schon am Vormittag wieder, mittags furchtbarer Hagelschlag. Gegen Abend werden die starken Windstöße allmählich Sturm. 8 Uhr Abfahrt von Bremen, da
n 9 Uhr mit Kleinbahn ab Osterholz, obwohl zuerst der Zug nicht fahren soll.
Nachdem die Bahn Ahrensfelde passiert hat, wird die Fahrt kritisch.
Im weiten, ungeschützten Moor packt der Orkan den Zug am besten. Bis zur Hammebrücke geht noch alles gut. Dann beginnt das Wasser gegen die Scheiben zu klatschen.
Der Zug, der unter den Sturmböen erzittert, fährt Schritt. Man öffnet die Fenster mit Mühe.
Die Flut braust um die Schienen, der 6 m hohe und an der Grundfläche 14 m breite Bahndamm ist ganz unter Wasser!
Alle 50 m stehen zwei Männer mit Sturmlichtern auf dem Damm Deichwache!
Die Wut der anrollenden Wogen ist so groß, dass stellenweise schon große Löcher klaffen.
Das ganze Dorf „Weyermoor“ ist heut Nacht auf den Beinen.

Das kleine Bahnhofsgebäude umbranden die Wellen. Die Aussteigenden müssen direkt in Boote, die sich mühsam bei Fackelbeleuchtung bis in den Schutz des Wäldchens durchkämpfen, wo das Wasser ruhiger ist. Nach „Weyermoor“ ist die große Gefahr vorbei.
Endlich, dreiviertel Stunden verspätet, in Worpswede.
Alles wundert sich, dass dieser Zug überhaupt fuhr.
Keine Laterne brennt. Man kämpft sich durch den Sturm zum Ort hinauf.
Auf den Wegen sind Ziegel und Äste verstreut.“




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Abendlied einer Amsel

„10.3.1911 Die Wasser fallen anhaltend. Der Tag sonnig und still. Abends: Treffe im Verschönerungsverein mit den Malern und Ortsältesten zusammen.
Frohe Gesichter. Alles hofft nach dem Erlebten auf einen schönen, stillen Frühling.“

SPRECHERIN:
Sicher bemühen sich die Herren des „Verschönerungsvereins“ nicht wegen Aleke und Ameke um den Schutz und die Pflege der Landschaft.
Eher im Namen der Schönheit und Harmonie versuchen sie die Worpsweder Bürger dazu zu bringen, in ihren Gärten und auf ihrem Berg Bäume und Sträucher anzupflanzen, die sich in dieser Gegend und auf diesem Boden heimisch fühlen. Grün und baumreich soll der Weyerberg werden, obwohl damit natürlich die Heide zum Vergehen verurteilt ist und die Fernsicht irgendwann auch dahin.
Schönheit und Harmonie sollen auch das Ortsbild prägen, und Heinrich Vogeler darf zu der Zeit in Worpswede Häuser bauen, die seinem Schönheitsempfinden entsprechen, dazu eine Reihe Bahnhofsgebäude zwischen Osterholz und Bremervörde, von denen heute noch der Worpsweder Bahnhof mit 1., 2. und 3. Klasse, Gaststätte inzwischen, als leuchtendes Beispiel dasteht, vor allem wegen der Vogeler-Möbel und der Grafiken von Vogeler und Hans am Ende.

SPRECHER:
Aus DuMont Dokumente / KULTURGESCHICHTE EINES KÜNSTLERDORFS:
Seit 1910 ist Worpswede nicht nur als Ausflugsort, sondern auch als Künstlerdorf etabliert. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zugleich aber hat es seine Besonderheit verloren. Von einer künstleris
hen Eigenart, von einer wie auch immer prekären Einheit von Kunst und Landschaft, wie sie für die erste Künstlergeneration charakteristisch ist, bleibt nur noch wenig übrig.
Zwar sind auch die Bilder der sogenannten zweiten Generation, z.B. von Karl Krummacher, der wie Emmy Meier 1899 nach Worpswede kommt, von Walter Bertelsmann, der sich 1902 hier niederlässt, und von Udo Peters, der seit 1907 in Worpswede malt, motivisch von der Moorlandschaft und ihren Bewohnern geprägt, aber dieser Bezug wird in ihren Werken zunehmend äußerlich.
Sie begründen in dieser Zeit die Tradition einer provinziellen, jede intensivere Auseinandersetzung mit der Moderne des 20. Jahrhunderts vermeidende Malerei, die vor allem bei den nicht wenigen autodidaktischen Künstlern und Künstlerinnen des Ortes auch heute noch gepflegt wird.“
Wie schade. Dabei hatte es so gut angefangen.




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Ländliche Szenerie

SPRECHERIN:
Paula Becker: TAGEBUCHBLÄTTER
Worpswede, im Sommer 1897.
„Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene-Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schö
es braunes Moor, köstliches Braun!
Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz.
Die Hamme mit ihren dunkeln Segeln. Es ist ein Wunderland, ein Götterland.
Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Bewohner wissen nicht, wie schön es ist. Man sagt es ihnen, sie verstehen es nicht.
Und doch braucht man kein Mitleid zu haben, nein, ich habe keins.
Nein, Paula Becker, habe es lieber mit Dir, dass Du nicht da lebst. Und das auch nicht, Du lebst ja überhaupt, Du Glückliche, lebst intensiv, das heißt: Du malst. Ja, wenn das Malen nicht wäre?!... Und weshalb Mitleid haben mit diesem Land? Es sind ja Männer da, Maler, die ihm Treue geschworen haben, die an ihm hängen mit unendlicher, fester Männerliebe!... Da ist erst Mackensen, der Mann mit den goldenen Medaillen in den Kunstausstellungen. Er malt Charakterbilder von Land und Leuten; je charakteristischer der Kopf, desto interessanter.
Er versteht den Bauern durch und durch.
Er kennt seine guten Seiten, er kennt sie alle, er kennt auch seine Schwächen. Mir deucht, er könnte ihn nicht so gut verstehen, wäre er nicht selbst in kleinen Verhältnissen aufgewachsen.
Es klingt hart von mir, grausam hart, es liegt ein großer Dünkel darin, und doch muss ich es sagen. Dies „In kleinen Verhältnissen Aufgewachsensein“ ist sein Fehler, für den er ja selbst nichts kann. dass der Mensch es doch nie abschütteln kann, wenn er mit dem Groschen gekämpft hat, auch später nicht, wenn er im Wohlstand lebt, der edle Mensch wenigstens nicht.
Dieser Kampf lässt Spuren zurück. Sie sind fast unsichtbar, aber ihrer sind viele, viele. Ein geübtes Auge entdeckt jeden Augenblick eine neue.
Der ganze Mensch war gebunden gewesen, festgebunden.
Mangel an Geld schmiedet uns fest an die Erde, man bekommt die Flügel beschnitten, man merkt es nicht, weil die Schere ganz vorsichtig täglich nur eine Ahnung abschneidet. Was hat dies böse, böse Schicksal den Menschen schließlich allmählich abgeschnitten!
Das Große, Unbefangene, das unabhängig Stürmende, das Stück Prometheus, das titanenhaft Kräftige im Manne, die Urkraft, die geht verloren.
Ist das nicht hart? ...
So ist es auch bei Mackensen.
Er ist ein famoser Mann, geklärt in jeder Beziehung, steinhart und energisch, zärtlich weich zu seiner Mutter.
Doch das Große, das unsagbar Große, das ist verloren gegangen.
Im Leben nicht, in der Kunst. Schade, schade.




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Gitarrenmusik

Der zweite im Reigen ist der kleine Vogeler, ein reizender Kerl, ein Glückspilz.
Das ist mein ganzer Liebling. Er ist nicht so ein Wirklichkeitsmensch wie Mackensen, er lebt in einer Welt für sich. Er führt bei sich in der Tasche Walther von der Vogelweide und Des Knaben Wunderhorn. Darin liest er fast täglich. Er träumt darin täglich.
Er liest jedes Werk so intensiv, den Sinn des Worte so träumend, dass er das Wort selbst vergisst.
So kommt es, dass er trotz des vielen Lesens keins der Gedichte auswendig weiß. Im Atelier in der Ecke steht seine Gitarre. Auf ihr spielt er verliebte alte Weisen.
Dann ist er gar zu hübsch anzusehen, dann träumt er mit seinen großen Augen Musik. Seine Bilder haben für mich etwas Rührendes. Er hat sich die altdeutschen Meister zum Vorbild genommen. Er ist ganz streng, steif; streng in der Form.
Sein Frühlingsbild, Birken, zarte, junge Birken mit einem Mädchen dazwischen, die Frühling träumt.
Sie ist sehr steif, fast hässlich. Und doch ist es für mich etwas Rührendes, zu sehen, wie dieser junge Kerl seine drängenden Frühlingsträume in diese gemessene Form kleidet. Das strenge Profil des Mädchens schaut sinnend einem kleinen Vogel zu; fast ist es eines Mannes Sinnen, fast wäre es eins, wenn es nicht wieder so etwas Gehaltenes, Träumendes um sich hätte.
Das ist der kleine Vogeler. Ist er nicht reizend? Dann ist da noch der Modersohn.
Ich habe ihn nur einmal gesehen und da auch leider wenig gesehen und gar nicht gefühlt.
Ich habe nur in der Erinnerung etwas Langes in braunem Anzuge mit rötlichem Bart. Er hatte so etwas Weiches, Sympathisches in den Augen. Seine Landschaften, die ich auf den Ausstellungen sah, hatten tiefe Stimmung in sich. Heiße, brütende Herbstsonne, oder geheimnisvoll süßer Abend. Ich möchte ihn kennenlernen, diesen Modersohn ...
... Worpswede, Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn.
Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. Deine mächtigen großartigen Kiefern! Meine Männer nenne ich sie, breit, knorrig und wuchtig groß, und doch mit den feinen, feinen Fühlfäden und Nerven drin. So denke ich mir eine Idealkünstlergestalt.
Und deine Birken, die zarten, schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen. Mit jener schlappen, träumerischen Grazie, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei. Sie sind so einschmeichelnd, man muss sich ihnen hingeben, man kann nicht widerstehen. Einige sind auch schon ganz männlich kühn, mit starkem, geradem Stamm. Das sind meine „modernen Frauen“... Und ihr Weiden, ihr alten knorrigen Stämme, mit den silbrigen Blättern.
Ihr rauscht so geheimnisvoll und erzählt von vergangener Zeit.
Ihr seid meine alten Männer mit den silbrigen Bärten; ja, ich habe Gesellschaft genug, meine ganz eigene Gesellschaft, wir verstehen uns gegenseitig sehr gut und nicken uns oft liebe Antwort zu.
Leben! Leben! Leben!“

SPRECHER:
„Von all den Ismen, die seit 1910 die deutsche Kunstszene in Atem halten, hat allein der Expressionismus in Worpswede Spuren hinterlassen.
Doch kann dies nicht darüber hinwegsehen lassen, das
sich seit dieser Zeit zwischen der künstlerischen Entwicklung des Dorfes und der zeitgenössischen Kunst eine spürbare Kluft auftut.
Es sind nur noch einzelne Künstler, die – mehr oder weniger isoliert und eher einzelgängerisch – bedeutsam sind und nicht dem provinziellen Bannkreis verpflichtet bleiben.

Von einer Worpsweder Kunstszene außerhalb dieses Bannkreises kann man nach dem Zerfall der ersten Worpsweder Künstlergruppe nicht mehr sprechen. Daran hat sich zwischen den Kriegen, in den „wilden zwanziger Jahren“, in der Epoche der kulturellen Erneuerung Deutschlands nichts geändert.“

SPRECHERIN:
Paula Becker starb 1907;
Fritz Overbeck 1909;
Hans am Ende 1918 im Krieg - die Hälfte der ersten Künstlergruppe.
Vielleicht hätte die Sprengkraft der Wirklichkeit des ersten Weltkrieges ihnen bei der Sprengung der herkömmlichen ästhetischen Formen geholfen.
So aber blieb nur Heinrich.




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Glocken

SPRECHER:
„Ihr lieben Feldgrauen aus dem Kirchspiel Worpswede.
Heute haben die Adventsglocken von unserem hoch über das Land hinausragenden Turm den Advent eingeläutet, und nun trennen uns nur noch wenige Wochen bis Weihnachten.
Es wird wieder ein Kriegsweihnachten werden.
Bei dem Wort denken wir vor allem an Euch! Dreimal nacheinander im Felde, oder in den Lazaretten oder sonst wo fern in einer fremden Garnison. Das ist viel.“




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Totenglocke

SPRECHERIN:
„Durchhalten und siegen“ schreibt die „dankbare Heimat“ ihren „Feldgrauen“ noch in den Weihnachtsbrief, „durchhalten und siegen!“
Aber die Pakete sind in diesem Kriegswinter 1916 schon sehr viel kleiner, und einige Monate später wird sogar die größere der beiden Worpsweder Kirchenglocken „zum Heeresdienst einberufen“ und muss nach einer Metamorphose „als Kanone ins Feld ziehen“.
Mit zweiundvierzig Jahren zieht Heinrich Vogeler 1914 als Freiwilliger in den Krieg, weg von den Schwierigkeiten mit Martha, weg vom Barkenhoff, dem Mittelpunkt seines Lebens.
Ihm gehen an der Front die Augen über.




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Trompetensignal

SPRECHER:
„Als vom Offizierskorps verwöhnter Künstler lernt er schnell die Diskrepanz zwischen Schützengrabenelend und angenehmem Offiziersleben kennen.
Er behält die Augen offen, anstatt das ganze Geschehen mit der Denkschablone eines kaisertreuen Soldaten wahrzunehmen.
Heinrich Vogeler glaubt, was er sieht, anstatt zu sehen, was er glaubt. Er schickt in einem Moment, als er seinen Kriegseinsatz nicht mehr für moralisch vertretbar hält, seine in „Das Märchen vom lieben Gott“ verschlüsselte Anklage gegen den Krieg an den Kaiser.“

SPRECHERIN:
Vogeler erwartet, dafür erschossen zu werden, landet aber wegen „mangelnder Zurechnungsfähigkeit“ nur im Bremen-Ellener Irrenhaus, wo er von seinem Arzt als harmlos eingestuft und bald entlassen wird.
An einem Worpsweder Märtyrer war dem Staat wohl nicht gelegen. Wenig später folgt die Entlassung aus dem Heer.
Der Barkenhoff wird Kommune.
Heinrich fasst seine neue Weltanschauung zusammen: „... Friede durch Sieg ist undenkbar.
Sieg ist eitler Triumph auf dem Leid unseres Bruders. Sieg ist Krieg in alle Ewigkeit. Friede ist bedingungslos.
Werden Bedingungen gesetzt, so sind sie es für alle, die je im Krieg standen, ihre Erfüllung ist Wegfall, Friede. ... Wir setzen den Menschen als Symbol der einzigen Wahrheit, der unvergänglichen Kraft, den Menschen als Expressionisten der Liebe.“

SPRECHER:
In Heinrichs Paradiesgarten gewinnen Tomaten und Kartoffeln den Krieg gegen die Lilien und Rosen. Heinrich hält die „Rote Marie“ im Arm, die hat nicht nur rote Haare, sondern auch eine rote Gesinnung.
Der Barkenhoff wird in eine Arbeitsschule umfunktioniert, eine Schule fürs Leben, die alle Bereiche geistigen und körperlichen Lernens umfassen und den Gemeinschaftssinn fördern soll. Die Kinder lernen mit Handwerkszeug umzugehen und haben auch Pflichten im Haushalt.
Die Kommune versucht, sich durch intensive Bewirtschaftung eine Gütergemeinschaft ohne Privateigentum und ohne Geldverkehr aufzubauen.

SPRECHERIN:
Wie früher kommen und gehen viele Gäste, nur sind es nicht die früheren berühmten Persönlichkeiten, sondern Revolutionäre, umstürzlerisches Volk, darunter auch die arbeitslosen Arbeiter von den Werften an der Weser, die es satt haben, in den Höfen der Krankenhäuser nach Suppe anzustehen.




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Trommel

SPRECHER:
ACHTUNG LANDLEUTE VON WORPSWEDE UND UMGEGEND!
Ihr seid gewiß schon oft Leuten begegnet, die auf dem Wege nach Ostendorf zu Vogeler waren oder die von dort kamen, und manchen habt ihr darunter gefunden, dem ihr nicht im Dunkeln begegnen möchtet.
HABT DIE AUGEN OFFEN! VOGELER SCHWÄRMT FÜR ALLES WAS RUSSISCH IST!

Diesen Aufruf können die Worpsweder am 27. September 1919 in ihrem Tageblatt lesen, und auch andere Zeitungen vor allem das sich für kritisch haltende Wochenblatt „Der rote Sand“, halten sich mit Hass- und Hetztiraden auf die Kommune vom Barkenhoff für die Schmach der Niederlage im Ersten Weltkrieg schadlos.
Fritz Mackensen sieht sogar den Untergang Worpswedes voraus und ruft nach einer Bürgerwehr, die diesem kommunistischen Treiben ein Ende bereiten soll.

SPRECHERIN:
Eine Hausdurchsuchung jagt die andere. Das Wasser des Teiches wird abgelassen, weil dort Gewehre vermutet werden.
Die Rote Marie kommt mehrmals hinter Gitter, einmal auch Heinrich.
Viel schneller als die Kartoffeln wächst der Strom der Zuwanderer und Besucher – eine sich selbst versorgende Gütergemeinschaft kann soviel Realität nicht überstehen.

SPRECHER:
Mit heimlich zugeschobenen Summen hat der Bremer Mäzen und Kaffeefabrikant Ludwig Roselius seit langem Heinrichs bargeldloses Projekt unterstützt, immer in der Hoffnung, Heinrich würde sich wieder ganz und gar der Malerei zuwenden.
Dafür gibt es aber keine Anzeichen.
Zuletzt weigert auch Roselius sich, die roten Ideen mit Spenden am Leben zu halten.
Eine in Deutschland der KPD nahestehende Tochterorganisation, die „Rote Hilfe“, übernimmt den Barkenhoff.
Bald ist er ausschließlich Kinderheim.




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"Wacht auf, Verdammte dieser Erde"

SPRECHERIN:
Heinrich Vogeler will jetzt seine ganze Kraft in den Aufbau des Sozialismus in Russland stecken.
In den Barkenhoff kommt er nur noch zu Besuch.
Bei einem dieser Besuche malt er an 1920 schon angefangenen Fresken in der Diele weiter, die jetzt Essraum ist.
Wieder einmal schwimmen den Konservativen des Landkreises die Felle davon.
Der Regierungsrat verlangt die Entfernung der Fresken und will, sollten seine Bedingungen nicht akzeptiert werden, das mustergültig geführte Kinderheim schließen, das ihm schon lange ein Dorn im Auge ist.
Damit löst er einen Sturm der Entrüstung aus.
Berühmte „Persönlichkeiten“ anderer Art melden sich zu Wort: Käthe Kollwitz, Egon Erwin Kisch, Heinrich Zille, Max Pechstein, Hermann Hesse, Carl Zuckmayer, Heinrich und Thomas Mann.

SPRECHER:
Mit verschließbaren Vorhängen werden die Augen der Kinder schließlich vor der Verhetzung durch die Fresken „geschützt“.
„Kinder politisch Verfolgter und Ermordeter werden vor der Information geschützt, dass es politisch Verfolgte gibt.“
Bis 1939 bleiben die Fresken verhängt oder mit Brettern zugenagelt.
Danach wird der Barkenhoff von einem neuen Besitzer umgebaut, die Fresken werden zerstört oder übertüncht.

SPRECHERIN:
Im September 1941 wurde Heinrich Vogeler zum Schutz vor den anrückenden Deutschen in die „Kolchose 1. Mai“ im Bezirk Woroschilow gebracht.
Sein Blasenleiden verschlimmerte sich, im Juni 1942 starb er.
Er liegt in Kasachstan begraben.

SPRECHER:
Ja die Alten, die sind doch tatsächlich wieder im Kommen.
Gerade gibt es eine Overbeck–Ausstellung im Barkenhoff; Paula Becker hat zum ersten Mal in einer Worpsweder Galerie einen Raum ganz für sich bekommen, Hans am Ende wird wieder ausgestellt, Otto Modersohn wie eh und je in Fischerhude gepflegt, und seit kurzem hört man, auch Mackensen sei wieder im Kommen.
Vielleicht kein Wunder, wenn die Landschaft im Gehen ist.

SPRECHERIN:
Und die Jüngeren und ganz Jungen, die Maler, Bildhauer, Töpfer und Fotografen, die heute hier leben?
Von denen arbeiten die meisten still und durchaus erfolgreich vor sich hin, erfolgreich nicht im Dorf und bei seinen Touristen, sondern draußen, in der Welt. Bilden sie eine Gruppe, muss das Auseinanderlaufen fast von Anfang an mit eingeplant werden, so ausgeprägte Individualisten sind sie alle miteinander.
Zwei Stätten für Stipendienaufenthalte bringen ab und zu frischen Wind in die Worpsweder Szene.
Viele ortsansässige Künstler sind ehemalige Stipendiaten, die sich nach der Nestwärme des Dorfes zurückgesehnt haben, in der sich – mit welchem Ergebnis auch immer – Kunst ausbrüten lässt, und die nun hier wohnen selbst auf die Gefahr hin, nur „dekorative Zutat einer scheinbar für alle Zeiten abgeschlossenen Epoche“ zu sein.




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"Die Modersongs" (Schluss)





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Lerchen|Wasser|Kühe

SPRECHER:
Im Moor und in den Wiesen jubilieren die Lerchen.
Sumpfcalla und Seerose kommen aus dem Morast an die Oberfläche und entfalten über dem braunen Wasser ihre nixenweißen Blüten.
In den Torfgruben sonnen sich die Kreuzottern.

SPRECHERIN:
„Ik sloop al“, sagt Aleke und streckt sich auf der Weide am Berg zwischen den Kühen aus.
Die erleben ihre erste Nacht im Freien und haben Heimweh nach den Ställen.
Rotzfäden lassen sie aus ihren Mäulern fließen und verfolgen den ganzen Zaun entlang die letzten Spaziergänger.
Immer wieder kommen diese hohen aufgeregten Brüller aus ihren großen Resonanzleibern. „Glenn Miller“ tutet aus den Hammewiesen zurück – da stehen als höchste Erhebung weit und breit ihre Verwandten und können auch nicht schlafen.




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Kühe

SPRECHER:

„Nu mööt ji dat Muul holl‘n, Beesters“, sagen Aleke und Ameke – da knicken die endlich ihre Gelenke ein und legen sich zum Wiederkäuen unter die Tanzröcke der Eichen.
Die Eulen starten zum Gleitflug über die ganze Weide.




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Wiese|Fliegen

SPRECHERIN:
Milch und Butter atmet der Wind am Morgen drauf und frische Kuhkacke.
Der Brummer „Schwortzkopf“ erfliegt sich über den Gräsern die Lufthoheit.




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Tropfen|Kuckuck|Düsenjäger

Tropfen tröpfeln in den artesischen Brunnen und der Kuckuck ruft.
Dann treibt der erste Düsenjäger den Adrenalinspiegel hoch.

MAYDAY!

Anm. der Autorin: Die "Tagebuchaufzeichnungen von Edwin Koenemann" wurden leicht verändert.

© 2007 Alle Rechte sind bei Margarete Jehn und dem Autorenverlag Worpsweder Musikwerkstatt